Woche der pflegenden Angehörigen soll auf deren Situation aufmerksam machen und durch vielfältige Veranstaltungen Unterstützungsansätze zeigen

Kiel, 10.10.2024

Drei von vier Menschen mit Pflegebedarf werden in Schleswig-Holstein von An- und Zugehörigen versorgt, meistens Frauen. Mit oder ohne Unterstützung durch weitere Familienmitglieder oder professionelle Hilfen.

Überwiegend sind es Frauen, die ihre Arbeitszeit aufgrund der Pflege reduziert haben. So verlieren sie Einkommen und Rentenpunkte. Bereits jetzt ist jede vierte pflegende Angehörige armutsgefährdet. Zu diesen prekären Verhältnissen kommen häufig emotionale Belastungen. Adäquate und wohnartnahe Entlastungseinrichtungen sind Mangelware. Der Personalmangel in der Pflege führt schon jetzt zu einem Angebotsmangel. So gut wie alle Pflegeeinrichtungen arbeiten an der Belastungsgrenze, viele haben bereits ihre Versorgungskapazitäten reduzieren müssen, weil das Personal fehlt und Refinanzierungen unklar sind.

Für Nicole Knudsen, Projektleiterin von wir pflegen SH e.V., dem Verband der pflegenden Angehörigen in Schleswig-Holstein, ist das nicht nur aus ökonomischer Sicht eine unhaltbare Situation. „Aufgrund des Fachkräftemangels in der professionellen Pflege sind es die Angehörigen, die den heutigen Pflegenotstand häufig allein auffangen. Sie können und wollen sich nicht von den zu Pflegenden distanzieren, weder räumlich noch emotional. Sie stehen 24/7/365 zur Verfügung. Die Unterstützungsformen, die den pflegenden Angehörigen Freiräume z.B. für eigene Erwerbstätigkeit schaffen könnten, gibt es kaum.“

„Die professionelle Pflege kann in dem engen System der gesetzlichen und bürokratischen Vorgaben den Anforderungen und Wünschen häuslicher, familiärer Pflege nicht wirklich gerecht werden. Wir brauchen dringend ein Netzwerk aus professioneller Pflege, Pflege durch An- und Zugehörige, Ehrenamt, Nachbarschaftshilfen oder kommunalen zivilgesellschaftlichen Angeboten, um sogenannte Caring Communities aufzubauen. Dieser Strukturwandel funktioniert allerdings nur mit politischer Unterstützung auf Bundes- und Landesebene“, sagt Anette Langner, Sprecherin des Forums Pflegegesellschaft e.V. und Vorständin des DRK – Landesverband Schleswig-Holstein e.V.

„Ohne Entlastungsleistungen wie Tagespflegen, Verhinderungspflegen oder Kurzzeitpflegen ist eine Vereinbarkeit von Pflege, Beruf und Teilhabe kaum möglich. Zu einer ehrlichen Diskussion gehört aber auch die konsequente Anwendung von Gender Mainstreaming / Pflegemainstream bei allen Maßnahmen und damit eine gerechtere Verteilung der Sorgearbeit“, so Anke Homann, Vorsitzende des LandesFrauenRates Schleswig-Holstein e.V.

In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Pflegebedürftigen im Land um 65 Prozent gestiegen. Aktuell haben  ca. 160.000 Menschen in Schleswig-Holstein einen anerkannten Pflegegrad, die Unterstützung und Pflege in den Familien beginnt aber häufig schon weit vorher.

„Was wir dringend brauchen, ist angesichts der begrenzten professionellen Pflege- und Betreuungskräfte und der erkennbaren emotionalen und gesundheitlichen Überlastung der pflegenden An- und Zugehörigen die Klärung der Frage, für welche Aufgaben und Personenkreise zügig personelle und finanzielle Ressourcen eingesetzt werden müssen“, so Anette Langner. „Ein „weiter so wie bisher“ kann es nicht geben und mit kleinen Reförmchen werden wir die Herausforderungen der Zukunft nicht bewältigen“.

Auch wenn Pflegepolitik in vielen Bereichen Bundespolitik ist, können und müssen auf Landesebene wichtige Entscheidungen getroffen und Strukturen entwickelt werden. Eine Förderung von Anlaufstellen zur Förderung der Selbsthilfe von pflegenden Angehörigen, die Kompetenzvermutung von Pflegekräften, die Förderung der Potenziale von Digitalisierung durch eine landesweite Beratungsstelle oder der niedrigschwellige Zugang zu Ausbildungen in der Pflege sind nur einige der Ansätze, die zügig vorangebracht werden müssen.

Die gemeinsamen Forderungen sind klar: Es braucht eine umfassende und realistische Bestandsaufnahme von Über-, Unter- und Fehlversorgung in Schleswig-Holstein, eine landesseitige Unterstützung der Kommunalen Pflegestrukturplanung und ganz wichtig: ein  wirksamer BÜROKRATIEABBAU sowohl in der professionellen als auch in der häuslichen Pflege! Zu einer realistischen Bestandsaufnahme gehört auch eine gesamtwirtschaftliche Betrachtung, die vor allem die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, die Gesundheitskosten und die Sozialausgaben für Grundsicherung bei einer Zunahme der häuslichen Pflege in den Blick nimmt. Die Entwicklung eines tragfähigen Konzepts zur Gewährleistung einer bedarfsdeckenden Pflege, das auf realistischen Planungen über das künftige Angebot an Pflegekräften basiert und eine Überforderung der pflegenden An- und Zugehörigen vermeidet, muss das gemeinsame Ziel der Bemühungen auf Landes- und Bundesebene sein. „Es ist schon lange Zeit die Pflege zu gestalten und nicht länger nur zu verwalten“, sind sich die drei Sprecherinnen einig.

Hintergrund:

Nach einer Prognos-Expertise aus Februar 2024 leisten Frauen und Männer über 18 jährlich insgesamt 117 Milliarden Stunden unbezahlter Sorgearbeit. Davon werden 72 Milliarden Stunden allein durch die Frauen getragen. Zum Vergleich: Das Arbeitsvolumen der Volkswirtschaft, also die Summe aller in Deutschland geleisteten Erwerbsstunden, beträgt jährlich 60,6 Milliarden Stunden. Der zeitliche Aufwand für Sorgearbeit in Deutschland übersteigt den für Erwerbsarbeit also deutlich. Mit 40,3 Milliarden Stunden entfällt mehr als ein Drittel der unbezahlten Sorgearbeit auf Kinderbetreuung und Angehörigenpflege, davon leisten Frauen 28,2 Milliarden Stunden, Männer nur 12,1 Milliarden Stunden. Würden Kinderbetreuung und Angehörigenpflege durchschnittlich entlohnt, hätten sie einen Wert von 1,2 Billionen Euro. Zum Vergleich: das BIP im Jahr 2021 betrug 3,6 Billionen Euro.

Woche der pflegenden Angehörigen 14.- 20.10.2024 :

Mit der Woche soll, auf die gesellschaftlich so wichtige und systemrelevante Arbeit der Angehörigen mit vielen unterschiedlichen Veranstaltungen hingewiesen, Unterstützung- und Beratungsangebote aufgezeigt und auf Selbsthilfegruppen aufmerksam gemacht werden, die den pflegerischen Alltag erleichtern sollen.

Kontakt:

Forum Pflegegesellschaft e.V. Anette Langner| Vorstand und Sprecherin Forum Pflegegesellschaft e.V. | info@forum-pflegegesellschaft.de| + 49 431 66947077 | https://forum-pflegegesellschaft.de

Wir pflegen SH e.V.: Nicole Knudsen |Vorstand wir pflegen SH e.V., Interessensvertretung und Selbsthilfe pflegender Angehöriger in Schleswig-Holstein e.V. | nknudsen@wir-pflegen-sh.net | + 49 152. 33 739 618 | https://www.wir-pflegen.net

LandesFrauenRat SH e.V.: Anke Homann |Vorsitzende |info@landesfrauenrat-s-sh.de | +49 5520 65 | https://landesfrauenrat-s-h.de